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Genuss

Münchens beste Wirtshäuser

Im Wirtshaus ist der Münchner ganz bei sich. Die Maß am Holztisch hat Kultstatus, und mittlerweile darf’s statt Bier sogar ein Cocktail sein. Vom Hofbräuhaus bis zum Newcomer: ein Besuch bei Wirten mit Herz und Leidenschaft.

Datum 02.11.2020
© Markus Bassler

Es ist sechs Uhr morgens, und Ludwig Wallner wurstet. Der frisch gewolfte Rückenspeck liegt schon in der Schüssel des Kutters bereit, einem Edelstahlkoloss mit rotierenden Messern, der Zutaten sehr fein zerkleinern und mischen kann. Aus Platikzubern hievt der Metzgermeister reines Kalbsbrät in die Maschine und lässt sie dröhnen. Während draußen auf dem Großmarkt Gabelstapler durchs Dämmerlicht kurven, fügt er sorgfältig weitere Zu­taten bei: gekochte Schwarte, Salz, Petersilie, ein paar Zwiebeln, Pfeffer, Muskat. Das Gerät arbeitet von selbst vor sich hin, dennoch fährt Wallner ständig mit seiner Hand und einem Spachtel durch das Brät, streicht es glatt, löst es vom Rand. »Man muss schon dabei bleiben«, sagt er und holt noch eine Handvoll Petersilie. 

Ludwig Wallner arbeitet nach Augenmaß, nicht grammgenau nach Rezept. Die Masse werde immer ein bisschen anders, erklärt er: Mal sei der Speck zäher, mal das Fleisch weniger kompakt. »Das ist eine Gefühlssache.« Wie der Bäcker einen großen Teig wuchtet Ludwig Wallner danach das Brät mit beiden Händen in den Trichter der Wurstmaschine. Sein Kollege setzt einen dünnen, langen Schweine­darm an die Öffnung, schon schießt das Brät hinaus. Die ersten Weißwürste sind fertig.

Eine knappe Stunde später steigt Wallner die Treppe zum Erdgeschoss hoch – und wird Wirt. Der 51-­Jährige führt zusammen mit seiner Schwester Gabi die Gaststätte Großmarkthalle. Die beiden sind hier aufgewachsen, sie haben das Lokal von ihren Eltern übernommen. Schon mit sechs Jahren hat der kleine Ludwig beim Wursten mitgeholfen. Er erinnert sich auch gut daran, wie die Arbeiter vom Großmarkt früher ab sechs Uhr Durst hatten. »Fünfzig Bier zapfen, das war das Erste, was die Bedienung gemacht hat«, erzählt er. Dazu gab es knusprige Brezn und frische, heiße Weißwürste aus der Terrine – der bayerische Klassiker eben.

Die Zeiten sind vorbei, in denen im Wirtshaus ab der Morgendämmerung der halbe Großmarkt ver­köstigt wurde. Heute gibt es kleine Imbisse auf dem Gelände, die Händler haben wenig Zeit, viele Wirte kommen nicht mehr selbst zum Einkaufen. Trotzdem öffnet die Gaststätte noch immer um sieben Uhr in der Früh und bleibt abends zu. Die Wallners haben einfach weitergemacht. Es war nicht immer leicht. Aber manchmal muss man einfach genügend lange an einer Tradition festhalten, bis sie wieder in Mode ist: Heute kommen wieder mehr Gäste, wenn auch meistens erst am späten Vormittag und vor allem am Wochenende. Weil es Kult ist, wenn der Wirt selber wurstet. Und weil man es schmeckt.

© Markus Bassler

In einer kulinarischen Welt, in der fast alles über­all erhältlich ist, sind die vielen traditionellen Münch­ner Wirtshäuser zu Sehnsuchtsorten geworden, die ihren Gästen etwas versprechen: Hier ist der Wirt noch im Haus. Hier kommt das Essen schnell und ohne lange Rede auf den Tisch. Hier musst du nicht auf die Karte schauen, weil du sowieso weißt, was es gibt, und zwar zu fast jeder Uhrzeit: frisch gezapftes Bier, Schweinebraten, knuspriges Hendl, eine Leber­knödelsuppe, eine Brotzeit mit frischen Brezn. Hier kannst du auch mit Fremden am Tisch gesellig bei­sammensitzen.

Vergeblich haben Wallner und andere Erzeuger vor ein paar Jahren versucht, die Bezeichnung »Münchner Weißwurst« als geografische Angabe schützen zu lassen. Die Würste seien eine regionale, aber keine auf München beschränkte Spezialität, ar­gumentierten die Behörden. Dem Kult ums Münch­ner Wirtshaus tut das aber keinen Abbruch. Wäh­rend auf dem Land das Wirtshaussterben grassiert, sind besonders in der Altstadt die Stuben und Bier­hallen rappelvoll. Bis zu 35000 Gäste zählt allein das Hofbräuhaus am Platzl – pro Tag. Viele davon sind Touristen: Auf der ganzen Welt sehnen sich die Menschen nach dieser rustikalen Art der German Gemütlichkeit. Sie kaufen im Souvenirshop HB­-Quietscheenten, HB-­Basecaps und HB-­Fächer, sitzen in der »Schwemme« genannten Bierhalle vor Haxen, Knödeln und Maßkrügen. Es ist ein Oktoberfest in Miniaturformat, 365 Tage im Jahr: Nirgends ist die Stimmung regelmäßig schon am Vormittag so bier­selig wie hier. Das Konzept ist längst ein Exportschla­ger: Im Franchise­-System existieren inzwischen Hof­bräuhäuser von Las Vegas bis ins chinesische Jiangjin.

© Markus Bassler
In Schließfächern lagern die Maßkrüge von 616 der vielen Stammgäste des Hofbräuhauses.

Vier Jahrhunderte reicht die Geschichte des Hof­bräuhauses zurück: 1589 als herzogliche Brauerei gegründet, ist es bis heute ein Staatsbetrieb. Wird ein neuer Wirt gewählt, entscheidet das Bayerische Finanzministerium mit. Denkmalpflege bedeutet in diesem Fall auch, sich um Gäste aus München zu bemühen. Über hundert Stammtische treffen sich in den Räumen, die persönlichen Krüge auserwählter Stammgäste werden in Schließfächern aufbewahrt. Sie alle sorgen dafür, dass die Institution nicht zum folkloristischen Klischee verkümmert.

München hat viele solcher traditionsreichen Wirts­häuser. Sie gehören wie die Brauereien zum bayeri­schen Kulturgut – und sind auch deren Aushänge­schilder. Eins davon ist das Stammhaus der Augustiner Brauerei. Über mehrere Jahre hat die Brauerei das Haus aufwendig saniert, bei laufendem Betrieb. Stolz führt Wirt Thomas Vollmer jetzt durch die Wagners Salons im ersten Stock. In den Räu­men wohnte bis 1947 die Familie Wagner, sie hatte 1829 die ehemalige Klosterbrauerei gekauft. Seit Herbst 2019 können Gäste darin in ruhiger, gediege­ner Atmosphäre speisen. Es ist ein Kontrastpro­gramm zum Erdgeschoss, wo es laut und gesellig ist und auf großen Tabletts bis zu 15000 Essen pro Tag durch die großen Hallen getragen werden. Ein Kraftakt: Selbst die zierlichste der Kellnerinnen schafft es hier auf sieben Teller oder 14 halbe Maß Bier pro Tablett. Viele Münchner kommen wegen des Biers hierher, da sie auf »ihr« Augustiner schwö­ren. Die Brauerei hat es geschafft, unabhängig von Weltkonzernen zu bleiben und produziert bis heute zentral im Münchner Westend an der Landsberger Straße. Statt in Werbung investiert das Unternehmen lieber in die Produkte und Liegenschaften. Die neu­en Salons im Stammhaus sind beste Imagepflege.

Zwischen Kalbsbackerl und Blutwurst stehen dort auch gebratene Riesengarnelen und karamellisierter Ziegenkäse mit Antipasti-Gemüse auf der Karte. Zu viel Veränderung hält das Prinzip »bayerisches Wirtshaus« zwar nicht aus. Aber um nicht zum Relikt zu werden, das einzig graumelierte Stamm­gäste oder anspruchslose Touristen verköstigt, muss man sich doch auch ein bisschen dem Zeitgeist anpas­sen. Souverän gelingt das im Schneider Bräuhaus, das bis vor wenigen Jahren »Weißes Bräuhaus« hieß. Das Publikum ist gut gemischt: Traditionalisten und Touristen schätzen die urige Atmosphäre und das Weißbier­-Frühstück, das hier nach alter Sitte nur bis exakt zwölf Uhr mittags serviert wird. Junge Craft­ Beer­-Liebhaber wiederum lockt das breite und köst­liche Angebot der Brauerei Schneider Weiße, bis hin zum »Eisbock« mit 12 Prozent Alkohol, für den Bier vereist und das gefrorene Wasser entfernt wird.

Klassiker im Haus ist das Weißbier »Tap 7 Origi­nal«. Es wird obergärig gebraut, eine Methode, die wahrscheinlich um 1480 aus Böhmen nach Bayern gekommen ist. Zuvor wurde um München untergärig gebraut, was nur bei kühlen Temperaturen funktio­nierte. Das obergärige Bier hingegen konnte das ganze Jahr über produziert werden – auch in den Sommermonaten, wenn die Bayern besonders nach Bier dürsteten. Ab dem 16. Jahrhundert besaßen die Wittelsbacher das Monopol auf das obergärige Ge­tränk, das nun auch immer öfter nicht nur mit Gers­ten­, sondern auch mit Weizenmalz gebraut wurde. Der Vorgänger des heutigen Hefeweizens stieg zum Bier der besseren Gesellschaft auf und wurde durch das herzogliche Privileg eine wichtige staatliche Ein­nahmequelle. Ab dem 18. Jahrhundert aber verbes­serte sich die Brautechnik für die untergärigen Biere, und das Weißbier kam wieder aus der Mode – sogar im »Weißen Hofbräuhaus«, dem Vorgänger der heutigen Institution. Dessen langjähriger Pächter Georg Schneider aber war von dem Getränk so über­zeugt, dass er 1872 Ludwig II. das Adelsprivileg für das Weißbierbrauen abkaufte und seinen eigenen Betrieb gründete. Heute führt Ur­-Ur­-Urenkel Georg Schneider VI. das Unternehmen – und im Stamm­haus der Brauerei Schneider Weiße erinnert das nach dem Rezept von 1872 gebraute »Tap 7 Original« an das Gründungsjahr.

Wie das Bier stimmen auch besondere Spezialitä­ten auf der Karte junge Foodies ebenso glücklich wie Traditionalisten: angebräunte Kälberfüße mit Kar­toffelsalat, Stierhoden vom Grill mit Weißbierschaum­sauce, Kronfleisch mit Kren (Zwerchfell mit Meer­rettich), kurzgebratenes Herz, paniertes Hirn, Nierenzapfen, Leber, Lunge, kurz: all die in der Schnitzel­ und Steakversessenheit fast vergessenen Teilstücke von Rind, Kalb und Schwein. Gerade wer­den sie von kreativen Köchen wiederentdeckt. Nose to tail heißt der Trend, bei dem alles vom Tier ver­wendet werden soll, von der Nase bis zum Schwanz.

Küchenchef Josef Nagler muss darüber schmun­zeln. Er arbeitet seit über 25 Jahren im »Schneider Bräuhaus« – und schon immer standen Innereien auf der Karte. Sie gehören zur bayerischen Küche, auch wenn sie nur noch in wenigen Gasthäusern zubereitet werden. Seit Wirt Otmar Mutzenbach seinen Koch motiviert, mit den Zutaten neue Gerichte zu kreieren, wächst auch die Rezeptsammlung stetig. Inzwischen ist daraus sogar ein Kochbuch geworden. »Ich hab schon alles durch«, sagt Nagler, weil ihm kein Teil­stück einfällt, das er noch nicht zubereitet hätte. Al­lein schon mit einem Schweinekopf kommt er weit. Für sein liebstes Rüsselrezept etwa löst Nagler die Nase aus, gart sie sanft, umwickelt sie mit Speck, den er brät und dann karamellisiert. Dazu macht er eine Schokoladen-­Malz-­Sauce und zweierlei Püree. Die Ohren wiederum schmort er zusammen mit dem Schwanz mit Gemüse im Weizenbockbier. »Wenn das auf der Karte steht, ist es gleich weg«, erzählt der Koch. Für das Kochbuch hat er sich als Dessert Hirn­pralinen ausgedacht: in Karamell gegartes Hirn, um­mantelt mit Schokolade und Haselnusskrokant.

Aber ist das denn jetzt noch bayerische Küche? Otmar Mutzenbach kontert mit einem Spruch: »Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.« Da passt auch ein veganer Krauteintopf bestens ins Konzept: »Frü­her gab es auch nur einmal pro Woche Fleisch.« Und dessen Herkunft ist dem Wirt wichtig. Die Rinder etwa bezieht Mutzenbach mit vier weiteren Innen­stadtwirten von Bauern aus der Umgebung. »Nächste Woche schlachten wir vier Tiere«, erzählt er. »Das Fleisch verbrauchen wir gemeinsam. Aber die Inne­reien von allen vier Rindern nehmen wir!«

Mit seinem durchmischten Publikum ist das »Schneider Bräuhaus« in der bayerischen Hauptstadt eher eine Ausnahme. Denn gerade unter jungen Münchnern hat das traditionelle Wirtshaus ansonsten nicht das beste Image. Die Geschwister Xaver (24), Theresa (28) und Jakob Portenlänger (30) wollen das mit dem Xaver’s ändern. Seit rund zwei Jahren haben sie das Ecklokal zwischen Altstadt und Glo­ckenbachviertel von der Augustiner Brauerei gepach­tet. »Wir haben uns gefragt, warum wir und unsere Freunde nicht regelmäßig ins Wirtshaus gehen«, er­zählt Jakob am frühen Abend, während die ersten Gäste eintrudeln. »Jeder identifiziert sich in unserer Generation mit seiner Heimat, mit Bayern, mit Le­derhosen und Dirndl, aber nicht mit dem bayerischen Wirtshaus.« Oft seien sie düster und ein bisschen verstaubt. Deswegen sind die Wände im »Xaver’s« grün gestrichen, auf den Tischen stehen frische Blu­men, und ein ausgeklügeltes Beleuchtungskonzept sorgt für eine wohlig­ warme Atmosphäre. Im Hin­tergrund wummern die Bässe einer Mundartband aus den Boxen, ab und zu bimmelt eine Glocke: Der bärtige Barmann hat wieder ein neues Holzfass an­gestochen, aus dem er ganz traditionell das helle Augustiner-­Lagerbier zapft.

Die Eltern des Geschwister­-Trios gehören mit ih­rem Hotel und Restaurant »Alter Wirt« bei München zu Bayerns Bio­-Pionieren. »Der hohe Anspruch an die Produkte, die Nähe zu den Produzenten – das haben sie uns vorgelebt«, sagt Jakob Portenlänger, der den elterlichen Betrieb demnächst übernehmen wird. Im »Xaver’s« sind die Portionen kleiner und teurer als anderswo, dafür schön angerichtet, gut zu­bereitet und aus besten Zutaten. Die jungen Wirte haben ein kleines Produzenten­-Netzwerk aufgebaut: Zweimal pro Woche etwa liefert eine kleine Fischerei am Schliersee Forellen und Saiblinge nach München. »Die sind so frisch, die haben sogar noch Toten­starre«, schwärmt Jakob. »Das bekommt man selten!« Die Karte ist klein und saisonal geprägt, die Küche schickt Waldpilzrisotto, Rote­-Bete­-Essenz mit Meerrettich-­Ravioli, Saiblings­-Ceviche, aber auch Wirtshausklassiker wie Backhendl, Wurstsalat und Kaiserschmarrn. Sie sind auch im »Xaver’s« der Renner, manche gehen eben nur dafür ins Wirtshaus und wollen nichts anderes.

Das ist auch in Ordnung, finden Jakob, Theresa und Xaver Portenlänger. Für die einen gibt’s Topi­nambur­-Suppe und Gin Tonic, für die anderen Schweinebraten und Weißbier. Hauptsache das Wirts­haus ist ein Treffpunkt für alle, wie früher im Dorf. »Uns war wichtig, dass wir nicht wie eine Stern­schnuppe wieder verglühen und nur ein, zwei Jahre der junge Trendladen sind«, sagt Jakob. Das hat gut geklappt, auch wenn nicht alles so wurde wie geplant: So wollte das Wirte-­Trio die Zweiertische mit Mittel­fuß bestücken, weil die Gäste auf den Bänken dann bequemer aufstehen könnten. Doch das ging für die Augustiner Brauerei zu weit. Für sie hat ein Tisch in einem Wirtshaus immer vier Beine.

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